»Man kann nicht kämpfen, wenn die Hose voller ist als das Herz.«

Ein Jahr Lexington

Ein Jahr Lexington, Ellen Kate Martin

„We’re all in this together”, singt die Schulsozialarbeiterin das High School Musical Lied in den Lautsprechern der Sporthalle, als ich in einer der langen Schlangen stehe, um an Rucksackuntersuchung und Metalldetektoren vorbei in das Schulgebäude zu gelangen.

Dieser Morgen ist anders als sonst. Er unterscheidet sich durch die Bombendrohung des vorherigen Tages. Für mich der erste Morgen nach einem Amokalarm, eine ganz neue Situation und somit ein ganz neues Gefühl in Verbindung zur Schule.

Doch für meine 14- bis 19-jährigen Mitschüler ist dies ein normaler Morgen ihres Lebens. Denn ihre Taschen werden jeden Morgen durchwühlt und Amokalarm heißt für sie nur Unterrichtsentfall.

Ein Schuljahr habe ich in Lexington, Kentucky, USA verbracht.

„Why Kentucky?”, fragten mich viele der Amerikaner, die ich traf. Man meine, im Allgemeinen sei Kentucky nicht unbedingt ein Vertreter des American Dreams, wofür man doch in den Westen ziehe. Es fehle die Freiheit New Yorks, die Geschichte Detroits und die Möglichkeiten Kaliforniens. Und um ehrlich zu sein, zu dem Zeitpunkt wusste ich es auch nicht so ganz, warum ich gerade nach Kentucky zog. Es hatte sich halt einfach so ergeben, dass ich im gleichen Alter in dieselbe Stadt zog wie meine Mutter damals auch – allein von Louisville nach Lexington mit 18 Jahren.

Nun, ein Jahr später, kann ich mir keinen anderen Ort als mein zweites Zuhause vorstellen. Von grünen Wiesen beschmückt mit weißen Zäunen und Pferden, bis hin zur Innenstadt, übernommen von College Campus, bekam ich das ganze Spektrum des “Bluegrass State” zu sehen.

Schule begann für mich nur zwei Wochen nachdem unsere Sommerferien letztes Jahr anfingen und ging von morgens um 8:25 Uhr täglich bis 15 Uhr mittags. In diesem Zeitraum hat man vier verschiedene, selbstwählbare Kurse und eine einzige 25 Minuten Pause – diese muss man jedoch in der Cafeteria verbringen. Insgesamt hat man für das gesamte Schuljahr nur acht Kurse, jeden zweiten Tag im Wechsel. Neben meinen Pflichtkursen an Mathe, Englisch, PoWi und Geschichte, habe ich auch noch Fotografie, Theater Kostümdesign, Psychologie und einem freiwilligen Französischkurs belegt.

Schule betreten und Klassenraum verlassen darf man nicht ohne einen Schülerausweis und während der Unterrichtsstunden auch nur mit “Hallway Pass”. Daran nicht gewöhnt, fühlte ich mich zu Beginn wie eine Gefangene, ein Insasse ohne Freiheit, und doch wurde es auch schnell meine Norm.

Ab 16 Jahren ist es üblich seinen Führerschein zu machen, ein Auto zu kaufen und sich selbst zur Schule zu fahren. Viele amerikanische Jugendliche fangen also schon im frühen Alter an zu arbeiten, um sich Auto und Sprit leisten zu können. Den für uns berühmten,
gelben Schulbus würden nur die unter 16-Jährigen und übrigen Sonderfälle nehmen. Wichtig für das High School Sozialleben sei es, davon kein Teil zu sein, sagte man mir.

Und das High School Sozialleben ist des amerikanischen Teenagers ganze soziale Welt. Denn nach dem Pflichtunterricht kommen Kunst-, Sport- und weitere Aktivitäten, sogenannte “Clubs”, die den Schüler meist bis 18 Uhr abends in dem Schulgebäude aufhalten. Dadurch kommen auch die Cliquen zustande, die man aus Filmen kennt - Jocks, Band Kids, etc.

Viele dieser Schüler sehen ihre Mitschüler mehr als ihre eigene Familie. Die High School ist also mehr als nur eine Schule für sie.

Dies merkt man oft auch an dem School Spirit.

An meiner Schule, Lafayette High School, wurden wir Schüler “Generals” genannt, nach dem Namensgeber, General Lafayette. Jeden Morgen, zu Beginn des Unterrichts, gab es eine Durchsage: “Good Morning, Generals”, einen Durchlauf der Aktivitäten und Events des Tages und zum Schluss noch die Pledge der Allegiance, bei der man zur amerikanischen Flagge gerichtet aufstehen soll und die Worte mitspricht, die Loyalität den Staaten über verspricht.

Durch den Stolz der Schule entsteht auch Konkurrenz zwischen den verschiedenen Schulen. Es ist nicht üblich viele Freunde an anderen Schulen zu haben.

Durch dieses isolierte Leben, in dem man seine ganzen Tage in der Schule verbringt, fand ich es schwer sofort Leute zu finden, mit denen ich mich verstehen und Freundschaften bilden konnte. Oftmals lag es an einem kleinen Altersunterschied, der schon viel ausmachte. Zwar mangelte es nicht unbedingt an genereller Lebenserfahrung, diese unterschieden sich teilweise einfach sehr stark. Während ich beispielsweise nicht wusste, wie es ist ein eigenes Auto zu besitzen und sich darum kümmern zu müssen, wussten viele meiner Mitschüler nicht, wie es ist ins Ausland zu verreisen.

Die Staaten verlassen zu können sei ein immenses Privileg und lediglich nur ein Traum für viele. Allein um in einen Nachbarstaat zu gelangen, bedeutete oft acht Stunden im Auto zu verbringen, dabei ist Kentucky noch einer der kleineren Staaten.

Ich versuchte aber trotzdem so viele Staaten und Städte zu besuchen wie auch in einem Jahr möglich - New York, Detroit, Saint Louis, Cincinnati, Chicago, Memphis, und jegliche kleine Städte und Dörfer, inklusive den Bauernhof meines Großvaters, den ich in diesem Jahr so oft zu sehen bekam wie noch nie zuvor.

Vor allem aber die Menschen sind mir ans Herz gewachsen und Teil meiner Familie geworden. Ich habe so viele verschiedene Menschen kennengelernt, von Mitschülern zu Studenten des Colleges, die dann auch meine engsten Freunde dort wurden, als auch Freunde und Familie meiner Gasteltern und meiner Mutter.

Gewachsen bin ich am meisten in meinem Verständnis und einer Wertschätzung, die mir vorher fehlte.

Ich vergesse nie wieder, wie gut ich es in Deutschland habe, das Privileg zu haben ins Krankenhaus gehen zu können, ohne mir finanzielle Sorgen machen zu müssen, eine vom Staat bezahlte Universität besuchen zu können, mit dem Bus zu reisen und nicht immer
darauf abhängig zu sein, jemanden mit einem Auto zu kennen, und natürlich auch zur Schule gehen zu können und zu wissen, dass die Wahrscheinlichkeit unglaublich gering ist, dass ich wieder in einer Situation sein könnte wie die, als jemand es geschafft hatte eine Waffe in die Schule zu schmuggeln und wir das Gebäude nicht verlassen durften.

In dieser Achterbahn an Erfahrungen, Gefühlen und Beziehungen fand ich es zwar oft schwer und habe mich auch oft in dem Heimweh verloren. Doch auf meinem Flug zurück nach Deutschland realisierte ich es dann erst so richtig: Ich liebe Lexington.

Ich liebe meine Gastfamilie, meine beste Freundin Sarah, das Café, in dem jeder Gedichte vortragen konnte, das alte Kino, das immer nur komische Filme spielte, das von Studenten organisierte Radio, die Kühe und Pferde, die man überall zu sehen bekam, die Geschichte Kentuckys, die Orte von denen meine Mutter mir immer erzählte, die Kunst und wie viel ich mich dort in ihr entfalten konnte und vor allem aber liebe ich die Entwicklung, die ich in diesem Jahr durchgemacht habe.

Ein Auslandsjahr kann ich gar nicht genug empfehlen.

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Erstellt am 17. September 2024
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